Kino:Herrschaftsloses Leben

Marcel Seehuber und Moritz Springer untersuchen in ihrem Dokumentarfilm "Projekt A" das Wesen des Anarchismus, seine Geschichte und Utopie

Von Jürgen Moises

Die Anarchie galt im 19. Jahrhundert als Geisteskrankheit. Selbst heute noch liest man von ihr nicht selten als etwas, das wie eine Krankheit "ausbricht" und das es deshalb "einzudämmen" gilt. Ein Anarchist ist, das "weiß jeder: ein gewalttätiger Mensch, außerdem schmuddelig, die Unordnung liebend, Chaos verbreitend, wo er geht und steht". So beschreibt Horst Stowasser in seinem Standardwerk "Anarchie!" das Klischeebild, um es dann auf 500 Seiten eloquent zu widerlegen. Auch Marcel Seehubers und Moritz Springers Dokumentarfilm "Projekt A", der beim Münchner Filmfest 2015 den Publikumspreis gewonnen hat, präsentiert ein anderes Anarchisten-Bild: Keine Chaoten, sondern sozial engagierte Menschen, die Hierarchien und Machtstrukturen ablehnen und alternative Lebensweisen ausprobieren.

Dazu gehören mehrere Mitglieder der jungen anarchistischen Bewegung in Athen, die einen Park und ein Gesundheitszentrum besetzt haben und selbst verwalten. Dazu gehört die deutsche Aktivistin Hanna Poddig, die sich gegen Militarismus und Atomkraft engagiert. Weiteren Anarchisten begegnen wir beim Internationalen Anarchistischen Treffen im schweizerischen St. Imier und im südlichen Spanien. Dort stellen Seehuber und Springer die Initiatoren der auf Selbstverwaltung, Selbstversorgung und Selbstorganisation setzenden Cooperativa Integral Catalana vor.

Project A

Aktivistin Hanna Poddig (rechts) kettet sich 2011 an die Schienen, um den Castor-Transport im Wendland zu verhindern.

(Foto: Marcel Seehuber)

Die Reisen nach St. Imier und Katalonien nutzen die Filmemacher außerdem dazu, die Geschichte des modernen Anarchismus zu erzählen. Diese handelt auch von Michail Bakunin, dem Begründer des kollektivistischen Anarchismus, und von der Tradition der anarchosyndikalistischen Gewerkschaften. In den Dreißigern, vor der Zerschlagung durch den Faschismus, hatten diese in Spanien mehr als zwei Millionen Mitglieder. Die Confederación General del Trabajo zählt heute noch 60 000.

Die letzte Station ist das Münchner Kartoffelkombinat, das in Form einer Bio-Gemüsegärtnerei solidarische Landwirtschaft betreibt und auf eine unabhängige, lokale Grundversorgung abzielt. Dessen Gründer sehen sich nicht als Anarchisten, stehen deren Ideen aber durchaus nahe. Und das gilt genauso für viele andere "Nicht-Anarchisten", die, so Springer, das Gefühl haben, "dass in unserer Gesellschaft einiges im Argen liegt". Und die sich Fragen stellen wie: Wo kommen unsere Lebensmittel her? Oder: Ist der Kapitalismus das wirklich einzig funktionierende System?

Solche Fragen zu stellen, hat der in Starnberg geborene Springer, der in Niederfinow in der Nähe von Berlin lebt, nicht zuletzt von seinem Vater gelernt: dem Münchner Künstler Bernhard Springer, früherer Punk und eines der letzten Urmitglieder der Domagkateliers. Marcel Seehuber wiederum lebt aktuell in einem selbst verwalteten Haus des "Mietersyndikats" in Altötting. Eine Figur, die für beide prägend war, ist der bereits zitierte Horst Stowasser. Der war nicht nur Anarchismus-Theoretiker, sondern hat auch ein anarchistisches Wohnprojekt in Neustadt an der Weinstraße initiiert und darüber ein mittlerweile legendäres Buch geschrieben: "Projekt A".

Moritz Springer hat Stowasser 2007 kennengelernt und wollte ihn zu einer zentralen Figur des Films machen. Da Stowasser aber 2009 verstarb, zeugen von dieser Idee nur noch der Titel sowie eine Widmung an Stowasser am Ende des Films. Der hatte 2005 in einem Interview dafür plädiert, dass der theorielastige Anarchismus endlich aus seinem "selbst gemachten Ghetto herauskommt" und "mehr auf die Bedürfnisse der Menschen achtet". Genauso sieht das Moritz Springer: "Transformation von Gesellschaft kann nur gelingen, wenn wir in diese hineinwirken. Alle Projekte, die wir besucht haben, verfolgen diesen Anspruch." Und das tun auch Springer und Seehuber mit ihrem Film.

Projekt A, ab Donnerstag., 4. Februar, im Werkstattkino, Fraunhoferstr. 9; und im Monopol-Kino, Schleißheimer Str. 127 (am 16. Februar in Anwesenheit der Regisseure)

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